Kolumne



August 2019

Würde durch Meditation


Der Wasserkocher dampft und ich warte auf die Möglichkeit, mein Glas mit dem allmorgendlichen heißen Wasser zu füllen – köstlich! Die Warteschleife in die ich eintrete füllt sich mit einem stillen, ruhigen Blick durch mein Küchenfenster. Etwas auf dem gegenüber liegenden Dach erregt meine Aufmerksamkeit. Zwei Tauben sitzen sich gegenüber und ich werde Zeuge, wie sich eine Taube vor die andere platziert, den Kopf neigt, den Schwanz hebt und sich ihr darbietet.

Mir wird bewusst: so muss es gewesen sein, als die alten Yogis ihre Körperhaltungen (ãsana) „erfunden“ haben – sie stellen oftmals eine Abbildung von Tieren und ihren Eigenschaften dar und erhielten so ihre Namen.
Diese „Verneigung“, dies sich Darbieten geschah ruhig und würdevoll. Doch der Geschlechtsakt vollzog sich nicht, denn die beteiligte andere Taube zeigte Ihre kalte Schulter.
In mir wurde etwas angeschlagen. Etwas reagierte in mir auf diese würdevolle Handlung und ich dachte: „Würde, was für ein großes Wort und es wird in unserer Welt mittlerweile immer mehr zu einem Fremdwort“

Vor einigen Wochen vertieften zwei Ereignisse dieses emotionale Thema, denn, ich gehe schon etwas länger schwanger und beobachtend mit ihm in meine Umgebung.
Das erste Ereignis - Der Papstfilm („ein Mann seines Wortes“) – hat zu einem kontinuierlichen Tränenfluss im Kino geführt und mich tief berührt.
Das Zweite - eine Talkshow in der Gerald Hüther zu Gast war und sein Buch „Würde“ vorgestellt hat – legte offen, dass dieses Thema Wert ist, in die Welt getragen zu werden.
Ich persönlich finde es wunderbar, dass sich Menschen mit dem Thema Würde in die Öffentlichkeit begeben und den Schattenthemen dieser Welt auf diese Weise begegnen.

Ich gehe der Frage nach, wie sich das Thema Würde übbar, erfahrbar und berührend in mein Arbeitsfeld und Leben integrieren lässt. Zu Beginn habe ich mir ein kleines Wortspiel erlaubt: Würde – würdigen – würdelos – würdevoll …
Mit diesen Worten schnuppere ich in meinen Alltag und gehe auf meine Matte. Die eigene Übungspraxis beginnt mit einer Würdigung meines Ist – Zustandes. Ich trete in Beziehung mit mir selbst - mit Körper, Atem und Geist.
Im Übungsverlauf würdige ich, durch Betrachtung und wirken lassen, die Veränderungen, die sich nach und nach einstellen. Dies braucht ein zu-neigen und Gegenwärtigkeit (1) – Würdigung für das was „Jetzt“ ist. Auf diese Weise lerne ich, auf mich selbst zu schauen. Dies Schauen birgt das Potenzial zur Unterscheidung (2)) meiner vielfältigen Ebenen.
Wie bin ich am Anfang? Wie erlebe, fühle ich den Change, den Wandel an und in meinen Strukturen? Wie gestalten sich und erlebe ich die Unterschiede? Was ist das überhaupt für ein Change (3) und wo, auf welcher Ebene in mir findet er statt?

Gerald Hüther führt in seinem Buch aus, dass ein nachhaltiger Wandel an und in uns auf der Ebene unserer Gehirnstrukturen stattfindet und nur durch wirkliches „fühlen und erleben“ möglich wird. Wir brauchen ein echtes Gefühl zu unserer Erfahrung, damit sie sich verankert.
Dies erklärt, warum der Yoga so effektiv ist, denn er bezieht sich auf alle Ebenen des Menschen und lädt zu einer echten, unmittelbaren Erfahrung ein. (4)

Diese Erfahrung bedingt innere Bereitschaft, ein inneres Wissen, dass es sich lohnt, sich einzusetzen für die Erfahrung der eigenen Würde.
Diese uns evolutionär mitgegebene Kraft nennt der Yoga sraddha (5). Es ist ein zum Menschen gehörendes Potenzial. Gerald Hüther bezeichnet es als einen „inneren Kompass“.
Was braucht es, um in diesen inneren Kompass, ins Vertrauen zur angeborenen Würde zurückzufinden?

Es braucht:
•    die Bereitschaft des Ein-Lassens und Bemühens (6)
•    Es braucht die Fähigkeit des Lösens, des Darbietens (7)
•    Es braucht die Fähigkeit der Balance in den Kräften der Materie (8)
•    Es braucht Struktur (9)
•    Es braucht Reinigung – kriya - tapas - svadhyãya - isvara pranidhana(10)
•    Es braucht Unterscheidung (2)
•    Es braucht die Fähigkeit zur Annäherung an sich selbst –
      sich auf sich selbst einlassen können (11)
•    Es braucht die Fähigkeit zur Konzentration (12)

Die Fähigkeit zur Konzentration stellt eines der wichtigsten Übungsaspekte im Yoga dar. Bei einer Sache bleiben können, unabgelenkt! So wird ein Change in unserer mentalen Befindlichkeit möglich – der Geist wird fähig zur  wachen und gleichzeitig entspannten Aufmerksamkeit.
Diese mentale Qualität, die sich durch Übung einzustellen vermag, ist bereits vorhanden. Das ist wichtig zu verstehen. Wir kreieren nichts Neues, sondern laden eine Qualität zur Entfaltung ein, die bereits in uns grundlegend angelegt ist. Diese Qualität, die eine Bewusstseinsqualität darstellt, ist das Tor zur Erfahrung der eigenen Würde, unseres intimsten, eigenen „inneren Kompasses“. Im Yogaprozess lösen wir uns lediglich von dem, was diese innere, wache und zutiefst entspannte Qualität überlagert!

Wie machen wir das?
Patanjali schlägt für dies „Machen“ eine 7- stufige Struktur vor. Dieser Weg (9) beginnt mit einer Zu-Neigung zur Welt (yama) und zum eigenen Wesen (niyama).
Yama und Niyama beschreiben Übungsqualitäten, deren Erfüllung wir im Laufe des Yogaprozesses als Marker begreifen können. Sie zeigen auf, in wie weit unser Praxisverlauf eine förderliche Richtung einschlägt.

In den Weiterbildungen, die ich in diesem Sommer 2019 besucht habe, wurde mir wieder einmal klar: es geht nicht darum, wie lange ich lebe. Vielmehr geht es darum, welche Qualität ich lebe. Meine innere Qualität entscheidet über glückliches, gelungenes Leben.
Yama und Niyama, diese ersten beiden Stufen des Yogaweges, begreife ich in diesem Zusammenhang mehr und mehr als sehr wesentliche Aspekte! Sie beziehen sich auf das Leben - das innere und das äußere.
Sie geben Orientierung für „würdevolles“ Leben. Sie können leiten in Konflikten, denn werteorientiertes Handeln kann Leid und seine Ursachen senken.
Yama und Niyama zeigen die Früchte unseres Übens auf.

Yoga wird als 2- facher Weg verstanden. Die Beziehung zu allem was Dich umgibt  (13) und Beziehung zu Dir selbst (14). Jetzt erst beginnt Körperpraxis (15). Wir lernen die Beziehung zum Körper und zum Atem (16), der nach einiger Zeit die Führung in der Bewegung übernehmen darf. Uns unserem Atem anzuvertrauen und dadurch in den eigenen Rhythmus zu finden ist Essenz gelungener Praxis, denn dies fördert den Abbau von Stressoren.
Im eigenen Rhythmus zu sein, ihn zu würdigen und zu entfalten wirkt harmonisierend auf die Gehirnstrukturen.
Die Qualität unserer Bewegung wird sich ändern, denn so wie ein Tänzer im Einklang tanzt, so werden wir spüren, wie es ist, sich im Einklang mit sich selbst zu bewegen und zu sein.

Dies Erleben des Einklangs ist Ziel einer jeden Yogapraxis. Diese Erfahrung vermag es, uns mit tiefgreifenden Erkenntnissen zu beschenken. Ich gehe sogar soweit: es können aus ihm intuitive Weisheiten erwachsen.
Dieser Einklang kann das Gefühl für die eigene Würde und Werte entfalten. Wir können uns zurückerinnern an das uns als Mensch mitgegebene innere Würde-Potenzial und es ins Leben integrieren. So finden wir ins Wesentliche.

Würde ist vielleicht nicht unmittelbar übbar, dennoch könnten wir üben, uns unserer Werte bewusst zu werden. Wir könnten erforschen, was es für uns / mich heißt würdevoll - an Werten orientiert - zu handeln. Wir könnten uns auf den Weg machen und neugierig werden, was dieser Begriff für uns selbst bedeutet, auch oder gerade weil wir erkennen, wann wir unsere eigene Würde oder die eines anderen verletzt haben.
Wir könnten einen Pfad der Klärung betreten – den 7- fachen Weg des Yoga (9)

Yoga führt zu Meditation (17). Yoga ist Meditation - ein Bewusstseinszustand, in dem wir uns ganz sicher bewusster darüber werden können, was wirklich Würde ist.

(1)    atha  1.1
(2)    viveka  2.26, 3.54, 4.26
(3)    parinãma
(4)    Sutra 1.14
(5)    Sraddha 1.20
(6)    abhyãsa 1.12 - 13
(7)    vairagya 1.12,1.15,1.16
(8)    guna 1.16
(9)    ashtanga – 8 Stufen 2.29
(10)    Sutra 2.1
(11)    svãdhyãya 2.32, 2.44 
(12)    dhãranã 3.1
(13)    yama 2.30
(14)    niyama 2.32
(15)    ãsana 2.46, 2.47, 2.48
(16)    prãnãyãma 2.49, 2.50, 2.51
(17)    dhyãna 3. Kapitel